Sie hatte sich einen Tag Urlaub genommen, ganz kurzfristig, denn in ihrer Wohnung sei eingebrochen worden, so sagte sie es der Sekretärin, die ihr Gespräch in der Schule entgegen genommen hatte. Nein, der Herr Direktor sei zu dieser Stunde noch nicht im Haus, da er heute keinen Unterricht geben musste, aber das wusste sie selbst. Sie bedauerte außerordentlich, dass sie nicht kommen könne, aber Frau Heller, die Sekretärin, hatte ehrliches Verständnis gezeigt. Zumindest hatte sie das Gefühl gehabt, das es echt war. Die Sekretärin gab ihr noch einige Ratschläge mit auf den Weg, wie sie sich nach einem Einbruch verhalten solle. „Haben Sie schon die Polizei gerufen? Lassen Sie sich ein Sicherheitsschloss einbauen. Sparen Sie nicht, Sicherheit geht vor!“
Jetzt saß sie am Küchentisch und grübelte herum, kam aber zu keinen Ergebnissen. Wer war heute Nacht oder am frühen Morgen in ihrer Wohnung gewesen, um sie zu fotografieren? Hatte er nicht genug Fotos? Wenn sich nicht bald jemand meldete, der seine Forderungen stellte, dann würde sie verrückt werden. Sie traute sich nicht hinaus, weder zum Einkaufen noch an den Briefkasten. Er konnte da draußen überall sein. In der Wohnung war er nicht! Diese hatte sie komplett abgesucht, bewaffnet mit dem Baseballschläger ihres Ex, das einzig Gute, das der zurück gelassen hatte. Sogar in den Spülkästen der beiden Toiletten hatte sie nachgesehen. Das war absolut lächerlich, aber sie musste es tun. Der Schläger stand neben ihr, angelehnt an den Stuhl. Zur Not, wenn einer in die Wohnung eindringen sollte, würde sie den einsetzen. Ein paar Luftübungen mit dem Schläger hatte sie schon ausgeführt. Beinahe hätte sie den Spiegel im Flur zerdeppert. Das konnte am Subjekt doch nicht so ein großer Unterschied sein?
Was Dirk wohl dachte, dass sie heute nicht in der Schule war? Sehnte er sich auch so nach ihr, wie sie sich nach ihm? Sie gäbe etwas, wenn er bei ihr wäre. Das würde ihr gleich ein besseres Gefühl vermitteln. Sie träumte sich, an ihrem Küchentisch verharrend, zurück zu den kleinen Abenteuern, die sie gehabt hatten und völlig unwichtige Sachen kamen ihr in den Sinn: Das goldene Herz, das sie ihm aus dem Kaugummiautomat gezogen hatte, die rote Haarspange, die er ihr mitbrachte, von seiner Schwester geklaut, Zuckerwatte essen, Sekt im Wald trinken, das Wellenrauschen, ihr erstes heimliches Treffen…
Erschrocken schaute sie auf die Uhr. Schon Mittag und immer noch keine Nachricht. Niemand hatte angerufen, weder zu Hause noch auf ihrem Handy, keine E-Mail war eingegangen, nichts. Der Briefkasten! Was, wenn draußen ein Brief lag? Sie konnte unmöglich mit dem Baseballschläger vor die Tür gehen. Wenn ihr die Krämer-Müttig aus der dritten Etage begegnete, die keinem geregelten Beruf nachging, was sollte sie der erzählen? Sie könnte sich, statt mit dem Baseballschläger hinaus zu gehen, ein Messer oder eine Schere in die Jackentasche stecken.
Sollte sie Frau Krämer-Müttig anrufen, ihr sagen, dass sie krank sei und sie zum Briefkasten schicken? Am besten auch gleich zum Einkaufen. Ein dicker Schal um den Hals gewickelt, die Stimme verstellt, so dass sie heiser klang, eine Leidensmiene aufgesetzt, dafür brauchte sie sich noch nicht einmal zu verstellen. Während sie den Kühlschrank nach Essbarem durchforstete, sie hatte noch nichts gegessen, überlegte sie diese Möglichkeit. Sie traute sich einfach nicht, jemand Bekannten, Kollegen oder Freunde anzurufen und diese einzuweihen. Ihre Mutter mit dem Thema zu behelligen, war auch tabu. Es war ja nicht ganz ohne, diese Beziehung mit Dirk.
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