Drei Jahre.
Er schaute hinab auf die Erde, die wie frisch aufgefüllt aussah. Die Steine lagen geordnet nebeneinander und bildeten einen viereckigen Abschluss. An manchen Tagen zählte er die Steine. Es war immer die gleiche Anzahl. Egal, wie oft er nachzählte. Die gelben Blumen, die jemand in die Vase gestellt hatte. Von ihm waren sie nicht. Er brachte nur Samstags welche mit, drei rote Rosen. Heute war erst Dienstag. Noch vier Tage bis dahin. Und dann ging es von vorne los. Jeden Tag kam er hierher und redete mit Paula, mit seiner Paula. Viel zu erzählen hatte er meist nicht. Trotzdem. Der Teddy saß auf seinem Stein, wie jeden Tag, und blickte ihn aus seinen schwarzen Knopfaugen an. Er kam ihm ein wenig blasser vor. Die Sonne hatte seine braune Farbe ausgebleicht. Regen, Wind und Wetter trugen ihr übriges dazu bei. Er wunderte sich, dass ihn noch niemand mitgenommen hatte.
Paula.
Sie war seine große Liebe. Mit ihr wollte er alt werden, sie war anders als die Frauen, mit denen er zuvor zu tun gehabt hatte. Sie hatte seine Abneigung zum Thema Reisen verstanden, auch dass er großen Rummel nicht ausstehen konnte. Alle anderen Frauen wollten zumindest eine Woche oder zwei irgendwohin fahren, hielten es im Urlaub zu Hause nicht aus. Paula hatte seine Liebe zu klassischer Musik geteilt, auch zu schöner Literatur. Stundenlang hatten sie auf dem Sofa gesessen und sich gegenseitig Bücher vorgelesen und hinterher darüber diskutiert. Manches Wochenende hatten sie einfach nur im Bett verbracht und sich den Klängen Beethovens hingegeben, bei Kaffee oder Tee. Sie hatte ihn mit kulinarischen Leckerbissen verführt und verwöhnt, die sie gemeinsam auf dem Sofa einnahmen. Wenn er morgens zur Arbeit ging, bedauerte er schon die Stunden, die er nicht mit ihr verbringen konnte, freute sich umso mehr auf den Feierabend, wieder zu ihr kommen zu können. Jeden Tag erwartete sie ihn an der Wohnungstür, kaum dass er den Schlüssel umgedreht hatte. Sie nahm ihm die Tasche ab und legte seine Jacke ordentlich in die Garderobe, küsste ihn immer zuerst auf die Nasenspitze, bevor sie sich von ihm in die Arme nehmen ließ.
Paula. Drei lange verdammte Jahre.
Er vergrub die Hände tief in seinem Mantel, schaute nicht um sich, wollte nicht wissen, wer sich sonst hier aufhielt. Er wurde nie angesprochen. Er hing seinen Gedanken nach, die sich in der Vergangenheit aufhielten. Für die Zukunft war kein Raum. Er konnte sich sein weiteres Leben nicht vorstellen. Es war jetzt so leer in seiner Wohnung und in ihm drin. Zwar ging er wieder seiner Arbeit nach, aber es ergab keinen Sinn mehr. Jeden Morgen überlegte er sich, ob er nicht einfach zu Hause und im Bett bleiben sollte. Dann raffte er sich doch auf und dachte an den Nachmittag, den er mit ihr verbringen wollte. Wenn er abends seine Wohnungstür öffnete, erwartete er immer noch, dass Paula im Flur auf ihn wartete und ihm die Tasche abnahm. Seine Jacke lag nicht mehr ordentlich in der Garderobe, sondern hing nachlässig über der Stuhllehne, dort wo sich noch mehr Kleidung von ihm angesammelt hatte. Es zog ihn nicht in die Küche, die keine Gerüche nach frisch Gekochtem verströmte. Sein Herd war schon lange nicht mehr genutzt worden. Er brachte keine Energien auf, sich etwas zu kochen, sah es als sinnlos an, da er das Essen alleine auf dem Sofa einnehmen musste. Manchmal schaffte er es nicht einmal sich den Tee oder Kaffee zu kochen. Dann ließ er es einfach bleiben, mied die Küche. Er mied auch den Briefkasten und nur, wenn der überquoll, nahm er die Post heraus, legte sie zu der Kleidung auf den Stuhl im Flur.
Ihm wurde kalt. Er ging ein paar Schritte auf und ab, immer den Blick auf die Blumen und den Teddy gerichtet, nie nach oben oder rechts und links. Er wollte niemanden sehen, wer sonst noch herum stand oder wie er hin und her ging, um die Kälte zu vertreiben. Schon gar nicht wollte er hören, was anderen widerfahren war. Er hatte genug mit sich zu tun, wusste nicht, ob er noch drei weitere Jahre überstehen würde, hierher kommen wollte. Drei Jahre waren eine lange Zeit, das Bild von Paula verblasste vor seinem inneren Auge. Manchmal hatte er Mühen sich ihre braunen Augen und die schwarzen Haare vorzustellen, ihren sinnlichen Mund, den er so oft geküsst hatte. Er sah dann vollkommen andere Frauen vor sich, mit denen er nichts zu tun hatte. Woher die Bilder kamen wusste er nicht. Manchmal stelle er sich die Frage, ob er Paula vergaß. Das war unmöglich, er schob es von sich. Paula war seine große Liebe und würde es immer bleiben!
Er trat heftig gegen einen der geordnet liegenden Steine an der Umrandung, der sich sofort aus seiner Reihe löste und woanders liegen blieb.
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging mit großen Schritten davon. Er kam nicht mehr an das Grab zurück.
© Vic Van Berg
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Das Ge- und Beschriebene gefällt mir. Ein klein bißchen fehlt mir persönlich die Pointe (wenn das nicht zu gefühlskalt klingt), ein kleiner Twist noch, es müßte nicht viel sein, nur noch ein bißchen mehr als dieser eine losgetretene Stein. Oder ist dies eine Skizze für etwas Größeres?
Mit Interesse gelesen.
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Vielen Dank, Jochen, das passt schon. Jeder hat ja seine eigenen Eingebungen zu den Geschichten, die man so liest. Wenn ich mir die Geschichte (Paula) noch einmal vornehme, versuche ich diese unter dem von Dir genannten Aspekt zu bearbeiten. Es war eine Einsendeaufgabe im Zuge der Roman-Werkstatt. Viele Grüße Vic
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