Sie hatte es sich geschworen, dass sie nie mehr in dieses Haus zurückkehren würde. Es war ihr so verhasst, wie einem nur etwas verhasst sein konnte.
Nun stand sie hier, schaute die Fassade an, dann die Straße entlang und wieder auf den Hauseingang. Es ging noch immer eine Bedrohung von diesem Haus aus, in dem sie ihre ganze Jugend verbracht hatte. Schon als das Taxi die Straße entlangfuhr, die zum Haus führte, revoltierte ihr Magen und ihre Eingeweide zogen sich unangenehm zusammen. Dennoch sagte sie dem Fahrer, dass er anhalten solle. Sie bezahlte ihn, nahm ihren Koffer von der Rückbank, schaute dem Taxi hinterher, bevor sie sich dem Haus zuwandte.
Der graue Anstrich, der dem Wohnviertel seine Anonymität verlieh, war seit ihrem Weggang nicht erneuert worden und das war 20 Jahre her. Es sah wirklich heruntergekommen aus. Das schlechte Gewissen plagte sie, dass sie Mama in diesem Bunker zurück gelassen hatte. Jetzt wollte sie versuchen, es ihr zu erklären und sie würde es auch irgendwie durchstehen. Den ganzen langen Flug über hatte sie sich dies vorgesagt. Es war eine Art Mantra geworden, an dem sie sich festklammerte. Egal, was damals passiert war, heute musste sie durchhalten.
Sie öffnete die Eingangstür, die nicht abgeschlossen war, obwohl die Hausordnung im Treppenaufgang anderes besagte. Sie zog ihren Koffer in den Gang und wartete bis die Tür ins Schloss gefallen war. In ihrem Magen rumorte es weiter. In der Eingangsetage gab es nur graue Wände, unterbrochen von noch graueren Türen. Durch das kleine viereckige Fenster in der oberen Hälfte der Eingangstür fiel spärliches Licht von außen. Die ebenfalls grauen Gardinen verhinderten zusätzlich, dass es hereinkam. Sie klammerte sich an den Griff ihres Koffers, mit der anderen Hand hielt sie den Henkel ihrer Handtasche fest, die sie an ihren Körper presste, als ob jemand kommen könnte, um ihr diese zu entreißen.
In jeder Etage befanden sich zwei Wohnungen, die nebeneinander lagen. Die Treppe führte gegenüberliegend nach oben. Es gab an den Flurwänden keinen Schnickschnack, wie damals war alles trist und öde. Die Versuche der Bewohner, diese Einöde der Flure mit immergrünen Plastikpflanzen oder braun-beigen Strohblumen aufzulockern, waren kläglich gescheitert. Es sah einfach heruntergekommen und alt aus, sowohl innen als auch außen. Der Lift befand sich neben dem Treppenaufgang. Früher hatte sie immer das Gefühl gehabt in einen Schuhkarton zu steigen. Früher. Das war bevor all diese Dinge geschehen waren. Jetzt war sie lange Zeit nicht mehr hier gewesen und die Tür zum Damals hatte sie fest in ihrem Inneren verschlossen, eine Tür, die sie niemals mehr öffnen wollte.
Dennoch stand sie im Treppenhaus und musste eine Entscheidung treffen, die sie in Wahrheit schon zu Hause getroffen hatte – zu Hause, als sie vom Tod des Mannes gelesen hatte, mit dem ihre Mutter zusammen gelebt und der die ganze Familie zerstört hatte. Sie empfand keine Genugtuung darüber, dass er endlich gestorben war. Wahrscheinlich war es viel zu harmlos gewesen, am Ende hatte er im Bett gelegen und war selig eingeschlummert. Dabei hätte ihm etwas ganz anderes gebührt! Verdient hätte er Schlimmeres! Obwohl sie nicht darüber nachdenken wollte, war das Thema in ihrem Kopf präsent, suchte sich seinen Weg durch ihre Hirnwindungen.
Treppe oder Lift? Beide Vorstellungen verursachten ein unangenehmes Gefühl in ihr. Aber die acht Etagen ohne Lift zu erklimmen, war auch nicht das, was sie unbedingt nach dem langen Flug und bei der Augusthitze brauchte. Sie schalt sich selbst eine Närrin und sagte sich, dass die Geschichte schon ewig her sei und sie ohne Probleme in den Aufzug gehen könne, es würde nichts passieren. Nein, es gab an diesem Haus jetzt nichts Bedrohliches mehr, das war nur Erinnerung.
Entschlossen packte sie den Koffer und zog diesen zum Aufzug, drückte den Knopf. Die Kabine war schnell da, umso schwerfälliger ging die Tür auf. Es erinnerte sie an eine alte Dampflock, die sich mühsam in Bewegung setzt. Immerhin ging die Tür auf. Sie zögerte, verbannte alle schlechten Gedanken, atmete dreimal tief ein und aus, betrat dann die Kabine. Die Tür schloss sich langsam.
Sofort fühlte sie sich gefangen, obwohl sie nicht wusste, was ihr dieses Gefühl vermittelte. Fast blinde Scheiben gaben ein nur unscharfes Bild von ihr zurück. Doch sie war froh, dass sie sich jetzt nicht sehen musste, abgekämpft vom langen Flug und der Hitze. Sie registrierte aber, dass es immer noch kein Nottelefon in der Kabine gab. Wie damals, nur, dass es früher auch noch keine Handys gegeben hatte, wobei sie bezweifelte, dass sie bei ihrem Anbieter Empfang haben würde. Plötzlich verspürte sie ein unbändiges Verlangen, ihren Lippenstift aus der Tasche zu holen und diese blinden Scheiben ein wenig mit Farbe zu versehen. Damals war es Mamas Lippenstift gewesen, den sie benutzt hatte.
Mit einem Ruck krallten sich Finger in ihren langen Haaren fest, ihr Kopf wurde nach hinten gerissen, ließen nicht locker, die andere Hand legte sich ihr über Mund und Nase, so dass Atmen schier unmöglich wurde. Eine tiefe, aber heisere Stimme flüsterte ihr ins Ohr, dass sie nicht wagen sollte, zu schreien, dann würde Schlimmeres passieren. Sie war starr vor Schreck und Angst, hatte mit nichts und niemandem gerechnet, wähnte sich alleine im Aufzug. Wo kam die Stimme her, wer war das? In ihrer Aufregung konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Verzweifelt versuchte sie Luft zu bekommen, aber die Hand lag unbarmherzig auf ihrem Gesicht. Sie spürte das harte Geschlecht eines Mannes in ihrem Rücken, das sich an ihr rieb. Kurz darauf wurde ihr die Jeans aufgeknöpft und mit dem Slip nach unten gezerrt. Mit brutaler Gewalt erhielt sie einen Schlag auf den Hinterkopf und wurde nach vorne gedrückt, so dass sie unweigerlich eine gebeugte Stellung einnehmen musste. Es hämmerte im Kopf, sie verschluckte sich an ihrer Rotze, die sich beim Heulen ansammelte und die sie bei den Versuchen Luft zu holen hinunter würgte. Es fühlte sich an, als ob ihr die Eingeweide heraus gerissen würden, sie traute sich kaum die Augen zu öffnen, ekelte sich vor sich selbst. Sie wollte nur weg aus diesem Fahrstuhl, heim zu Mama, die sie retten würde. Sie warte auf ihr Ende, das aber nicht eintrat. Sie hörte die Geräusche des Hauses überdeutlich, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Ein Radio plärrte Musik aus den 80-er Jahren, eine Klospülung rauschte, irgendwo wurde eine Jalousie herunter oder hinauf gekurbelt. Nur im Aufzug herrschte Stille, bis auf ihr Herzklopfen, das wie dumpfes Hämmern auf Stein klang.
Es dauerte viele Monate und Jahre, in denen es immer wieder passierte, nicht mehr im Aufzug, sondern in der eigenen Wohnung. Mama wollte es nicht bemerken, rettete sie nicht, aber sie selbst hielt es nicht mehr aus. Es bedeutete den Bruch mit dem Elternhaus, weg von der geliebten Mutter. Sie war damals nicht böse auf sie gewesen, ging einfach fort und begann woanders neu. Mama blieb zurück, wie die ganze grässliche Vergangenheit.
Doch nun hatte sie das alles wieder eingeholt, 20 Jahre später, während sie im Lift nach oben in den achten Stock fuhr. Unvermittelt schlug sie auf die Knöpfe ein, bis die richtige Etagennummer leuchtete. Die Kabine kam mit einem Ruck zum Stehen, die Tür öffnete sich schwerfällig und ging wieder zu. Dann wurde die Fahrt fortgesetzt, diesmal in die andere Richtung.
Fluchtartig verließ sie den Lift und das graue Haus, zerrte ihren Koffer hinter sich her, die Rollen quietschten erbärmlich. Sie sah nicht, wie oben im achten Stock eine Gardine zurückgezogen wurde, die alte Frau dahinter ein neues Taschentuch ergriff, von Krämpfen geschüttelt wurde.
© Vic Van Berg
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