Wir spielen verstecken. Ich bin schlau, steige in den alten Brunnen hinab, weit hinter unserem Haus. Das Seil hängt dort seit einer Ewigkeit, hinunter zu kommen stellt kein Problem dar. Unten ist es klamm und kalt, es stinkt verfault. Ganz anders als oben. Ich bin trotzdem glücklich, ein so gutes Versteck gefunden zu haben, gehe in die Hocke, stütze meine Arme auf den Beinen ab, den Kopf auf die Hände und warte.
Zehn Minuten. Einmal nicht der Loser sein und eines der Kinderspielchen gewinnen. Mit 14 bin ich zu alt für so etwas. Aber die Sommerferien sind lang, die meisten Freunde sind in Urlaub, nur wir bleiben daheim. Papa sagt, mit fünf Kindern und dem Hof ist kein Urlaub drin.
Ich stehe auf, gehe hin und her. Viel Platz habe ich nicht, wenn ich keine komplett nassen Schuhe bekommen will.
Jetzt könnten sie mich aber finden. Ich warte schon über eine dreiviertel Stunde. Ich habe Hunger. Und Durst. Soll ich abbrechen und aufgeben? Ich bin doch kein Mädchen, das gleich heult, wenn die Mama mal nicht zu sehen ist.
Fast 2 Stunden. In der ganzen Zeit, die ich hier unten bin, höre ich keine Stimmen. Suchen die mich überhaupt? Wenn ich nach oben schaue, sehe ich ein hellblaues Loch. Sommerhimmel.
Ich will da hoch.
Verstecken zu spielen, ist blöd. In meiner Jeans finde ich die Kippen, die ich aus Papas Jacke geklaut habe. Ich zünde mir eine an, verschlucke mich am Rauch, huste wie verrückt und im Kopf dreht sich alles. Ich werfe die halb gerauchte Kippe auf die nassen Steine.
Eine letzte Chance gebe ich denen noch. Ich rufe nach oben zum jetzt dunkelblauen Loch: „HAAAALLO!“ Niemand antwortet, auch nach fünf Minuten nicht. Wahrscheinlich sitzen die unter der alten Eiche in unserem Garten, schlürfen Mamas selbst gemachten Eistee und lachen sich kaputt. Über mich, den Loser, der noch immer in seinem Versteck hockt und darauf wartet, gefunden zu werden. Und schauen in den Abendhimmel, von dem ich nur mehr ein dunkles Loch sehe.
Ich habe Hunger. Und Durst. Scheiß‘ auf das Spiel, ob ich gewinne oder verliere. Ich erkläre das Spiel für beendet.
„Ich gebe auf.“
Die drei Worte verhallen im Nirgendwo. So gerne hätte ich gewonnen. Nur einmal.
Ich packe das Seil mit beiden Händen, oben ist das himmelblaue Loch verschwunden. Alle Versuche scheitern, die Haut an meinen Händen reißt auf, es brennt und ich muss eine Pause machen. Schweiß, Schmutz und Blut vermischen sich. Ich heule, mein Körper schlottert wie bei einem Fieberanfall. Gleich streicht mir Mama die nassen Haare aus der Stirn, stellt mir einen Tee auf den Tisch und deckt mich wieder ordentlich zu.
Ich schüttele die Gedanken ab, fummele das Handy aus der Hosentasche, ich kann doch anrufen. Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin. Schon sehe ich Papa, wie er die lange Leiter herunter lässt, auf der wir sonst die Äpfel von den Bäumen pflücken. Soll er doch schimpfen und sein Verbot zum hundertsten Mal wiederholen, dass wir nicht in den alten Brunnen steigen sollen. Das ist viel zu gefährlich. Mindestens hundertmal hat er gesagt, dass er den abdecken muss. Wir nicken immer, dann lachen wir uns schlapp, wenn er weg ist, malen uns aus, was da unten alles passieren kann. Jetzt kann ich nicht darüber lachen.
Ich verschmiere das Display meines Handys, erkenne kaum etwas. Ich drücke überall drauf, irgendwas muss sich doch tun. Ich bin zu weit unter der Erde. Kein Empfang.
Das Loch über mir bleibt schwarz.
Abgrundtief ist das dritte Wort aus dem *.txt-Projekt von HIER.
Horror! Da kriege ich klaustophobische Ängste, wenn ich so was lese. Hoffentlich vergammelt er da unten nicht. 😉
Nein, hat mir sehr gut gefallen. So ein bisschen Stephen King. Fehlt nur noch Pennywise, der ins Loch grinst.
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Ja, genauso ging es mir auch. Mir wurde richtig flau…. Hoffentlich merkt das bald jemand…
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Du lässt uns mit Deiner Hauptfigur im Brunnen zurück, wir wissen alle nicht, ob das gut ausgehen wird, zumal Du das auch noch im Präsenz erzählst. Wie böse!
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Vic, wir brauchen unbedingt eine Fortsetzung…:-)
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@all: Vielen Dank fürs Lesen und für eure Kommentare.
@Katharina Renzi: Es sind noch Wörter aus dem *.txt-Projekt übrig. Glück oder wünschen könnten zum Beispiel gut passen. Ich denke darüber nach. 🙂 Viele Grüße Vic
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